1985 - Das Jahr der Börse
Es gibt in Deutschland nicht viele Institutio
nen, die eine so lange Geschichte haben und
trotz ihres Alters heute derart vor Vitalität
strotzen, wie unsere Börsen. 1985 beging die
Frankfurter Wertpapierbörse den 400. Jahres
tag ihrer Gründung, die Berliner Börse wurde
300 Jahre alt und der Börsenclub Hannover
feierte sein 200jähriges Bestehen. Erst ein
selten günstiges Zusammentreffen von wirt
schaftlichen, monetären und politischen Ent
wicklungen hat das Jubiläumsjahr zum Jubel
jahr werden lassen. Nie zuvor in der Bundes
republik waren die Börsenumsätze höher, nie
vorher auch die Aktienindizes. Deutsche
Stammaktien hatten ultimo 1985 einen Kurs
wert von 439 Mrd. DM (473 Mrd. DM Ende
März 1986). Auch diese Zahl bedeutet Nach
kriegsrekord, möglicherweise sogar einen hi
storischen Höchststand. Dies genau zu ermit
teln, dürfte freilich unmöglich sein; man be
denke nur, in wievielen Währungen allein in
diesem Jahrhundert hierzulande gezahlt und
gerechnet worden ist. Deutsche Aktien sind
1985 im Durchschnitt um 70 Prozent teurer
geworden und es heißt, daß so starke Haus
sen nur einmal in jeder Generation auftreten.
In der Tat muß man bis 1959 zurückgehen,
um vergleichbare Kurseruptionen zu finden.
Es hat nach dem Kriege immer wieder inter
essante Neueinführungen am deutschen Ak
tienmarkt gegeben, hier sei nur an die Volks
aktien erinnert. Dennoch ist der Kurszettel im
mer kürzer geworden, immer mehr Börsen
werte waren durch Fusionen, Bankrotte oder
Umwandlungen der Rechtsform verschwun
den. Dieser beklagenswerte Trend hat sich
erst 1983 umgekehrt, und die Experten spre
chen inzwischen von einerWella-Welle“.
Skeptiker hatten zunächst befürchtet, diese
Welle werde schnell wieder abebben, sobald
sich der Emissionsstau aufgelöst habe. Inzwi
schen haben die Optimisten recht bekommen.
Die Neueinführungen sind am Aktienmarkt zu
einer beständigen, beinahe schon routinemä
ßigen Veranstaltung geworden. Im Jahr der
Neuemissionen (1984) hatten 21 Unterneh
men ihr Börsendebüt gegeben, im Berichts
jahr waren es 11, darunter so prominente Na
men wie Henkel und Springer. Das Volumen
der Einzelemissionen wird immer größer,
auch konnten die Unternehmen höhere Emis
sionskurse erzielen, so daß wieder ein Plazie-
rungsvolumen von 1,8 Mrd. DM erreicht wur
de. Dieser Trend wird sich 1986 fortsetzen
und es ist schon abzusehen, daß zwei Na
men VIAG und Feldmühle-Nobel das
Geschehen und die Statistiken beherrschen
werden. Abgesehen von der immer wieder
angemahnten Abschaffung der Gesellschaft
steuer scheint man auch in Bonn bereit zu
sein, die Beschaffung von Eigenkapital zu un
terstützen. Ein neues Unternehmensbeteili
gungsgesetz soll die Finanzierung junger Un
ternehmen erleichtern helfen. Und an der Bör
se soll ein Geregelter Markt“ geschaffen
werden. Hier sollen die Zulassungshürden für
Börsenneulinge niedriger liegen als im amt
lichen Handel, der Anlegerschutz zugleich
besser sein als im bisherigen Freiverkehr.
Anscheinend steht also in der deutschen Bör
senlandschaft alles zum besten. Es ist daher
auf den ersten Blick paradox, wenn sich die
Experten aus Banken und Börsen ausgerech
net im Rekordjahr 1985 Sorgen um die Attrak
tivität des Finanzplatzes Bundesrepublik
gemacht haben. Wie denn: Die ganze Welt
reißt sich um deutsche Aktien, die es im letz
ten Jahr auf Platz 3 der Weltrangliste ge
bracht haben, der Bund kann seine Anleihen
beinahe komplett im Ausland plazieren, die
D-Mark zählt zu den beliebtesten Anlagewäh
rungen so unattraktiv kann der Finanzplatz
doch wohl nicht sein. Nun pflegen Börsianer
sich nicht lange an historischen Reminiszen
zen zu berauschen, und Experten mit Weit
blick befürchten nicht zu Unrecht, daß der
deutsche Kapitalmarkt den Anschluß verpas
sen könnte. An den Weltfinanzmärkten sind
nämlich einige aufregende Entwicklungen in
Gang gekommen, die nicht nur Banken, Bör
sen und Behörden betreffen. Gerade auch der
private Anleger tut gut daran, sich beizeiten
darauf einzustellen. Denn um ihn geht es und
er kann, wenn er es richtig anfängt, der Nutz
nießer sein.