Marktwirtschaft liegt, wenn auch der sich jetzt abzeichnende Konjunkturaufschwung nicht die hohen, bisweilen sogar zweistelli gen Wachstumsraten der fünfziger und sech ziger Jahre zeitigen wird, wenn der Abbau der Arbeitslosigkeit nur schleppend vonstat ten geht und wenn ernsthaft zu befürchten steht, daß die Inflationsrate ihren Tiefpunkt bereits passiert hat. Trotzdem ist es keineswegs eine bloß akade mische Frage, ob eine soziale Marktwirt schaft, die über zwei Jahrzehnte lang sei es zu Recht, sei es zu Unrecht mit dem „deutschen Wirtschaftswunder“ assoziiert worden war, nunmehr nicht unweigerlich ob nun zu Recht oder zu Unrecht mit einer wirtschaftlichen Entwicklung in Verbin dung gebracht wird, die bei allen eindrucks vollen Einzelerfolgen etwa hinsichtlich der Ausfuhrleistungen, der Härte der D-Mark oder des Gewichtes der Bundesrepublik in den Europäischen Gemeinschaften und in transatlantischen Gipfelgesprächen den „Glamour“ des Wunders wohl eingebüßt hat. Beginnt sich nicht vielleicht doch der Umstand zu rächen, daß bei der Entwicklung des Modells der sozialen Marktwirtschaft auf die Sicherung des mikroökonomischen Gleichgewichts (insbesondere auf die Ver hinderung von Marktmacht) weit größerer Wert gelegt wurde als auf die Erhaltung des makroökonomischen Gleichgewichtes (z. B. die Verhinderung von Arbeitslosigkeit)? Den Vätern der sozialen Marktwirtschaft bereite te, kaum überspitzt formuliert, das Kartell mehr Sorge als die Konjunktur, hinsichtlich derer man teils auf die Selbstheilungskräfte des Marktes, teils etwa im Sinne des (allzu) kühnen Erhard-Wortes: „Konjunkturen sind nicht unser Schicksal, Konjunkturen sind unser Wille“ auf die Möglichkeiten keynesianischer Globalsteuerung vertraute. Auf der anderen Seite sollten wir nicht ver gessen, daß im Mittelpunkt der Kapitalis mus-Kritik des Marxismus von Anbeginn an die Krisenanfälligkeit der Marktwirtschaft gestanden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien fast drei Jahrzehnte lang diese Kapi talismus-Kritik ins Leere zu gehen und damit auch der Hinweis auf die angebliche Überle genheit der Planwirtschaft, die ihre ökonomi sche Ineffizienz durch Krisensicherheit wett macht. Kein Wunder, daß die Marktwirtschaft verschärften ideologischen Angriffen ausge setzt ist, seit sie sich oder seit sich die Wirtschaftspolitik der Staaten, die sich grundsätzlich der Marktwirtschaft verpflichtet fühlen aus welchen Gründen immer außer stande erweist, für ein krisenfreies Wirt schaftswachstum und für kontinuierliche Vollbeschäftigung zu sorgen. Auf die deutlichen Knickstellen hinzuweisen, die die ökonomische Entwicklung der Bun desrepublik Deutschland im dritten Jahr zehnt der sozialen Marktwirtschaft aufweist, heißt nicht, an dieser zu zweifeln, wohl aber an deren unbedachter Verquickung mit dem „deutschen Wirtschaftswunder“ der fünfziger und sechziger Jahre. Diese Verquickung war auch insofern unbedacht, als sich die Wachs tumsbeschleunigung in den ersten zweiein halb bis drei Nachkriegsjahrzehnten nicht auf Deutschland und auch nicht auf die insge samt wenigen Länder beschränkt hat, die die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft zu verwirklichen trachteten, wenn sich auch kaum bestreiten läßt, daß eine der Triebkräfte für diesen internationalen „Wachstumsschub“ der Abbau von Zoll-, Handels- und Devisen schranken und damit die Wiederherstellung eines echten Welt-Marktes war. Die Heftigkeit des nahezu alle westlichen Industriestaaten erfassenden Rückschlages 1974/75 und insbesondere die Zaghaftigkeit des Aufschwunges in den Jahren 1976 bis 1978 geben Grund zu der Vermutung, daß 1974/75 nicht bloß ein Konjunkturzyklus zu Ende gegangen ist, sondern auch ein Wachs tumsschub von Generationslänge. Oder weniger dramatisch formuliert: Es stellt sich mittlerweile immer deutlicher heraus, daß das, was wir bis in die frühen siebziger Jahre hinein für ein exponentielles Wachstum gehalten hatten, in Wahrheit nur das Steil stück einer S-förmigen Kurve gewesen sein dürfte, wie sie jedem Unternehmer als typi scher Umsatzverlauf auf einem Produktmarkt wohlvertraut ist. In der Tat liegen die in den „Wirtschaftswun derjahren“ erreichten Wachstumsraten sowohl gesamtwirtschaftlich wie vollends je Kopf der in den Industriestaaten nur noch langsam zunehmenden Bevölkerung weit über den vorher in den anderthalb bis zwei Jahrhunderten seit Beginn der industriellen Revolution erzielten. So etwa hat das Statisti sche Bundesamt für das heutige Staatsge biet das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen bis 1850 zurückgerechnet. Die sich hieraus ergebende jahresdurchschnittliche Wachs tumsrate beträgt bis 1913: 2,68 o/o und bis 1938: 2,480/o, im Vergleich zu mehr als 15

Rabobank Bronnenarchief

Geschäftsberichte Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt / ADCA Bank | 1978 | | pagina 17